Wolf und Jettchen Wartensleben
Zwei nette ältere Leute aus der Nachbarschaft…
Liebe Familie .T
„Ihr werd staunen etwas von Wolf zu hören, leider ist mir meine gute Frau an Schwäche gestorben u. bin ich der Unglücklichste unter 1288 Personen die von Darmstadt nach Theresienstadt zum Transport fort kamen bin ich u. ein Frauchen von Darmstadt noch die Alleinigen, alle andern sind an Hunger u. Vergasung tot. Ich muß leider das Glück haben u. noch bei den Lebenden zu sein, wenn nicht die Russen gekommen wären nach Böhmen denn es wurde noch eine Gaskammer gebaut für uns Überlebenden, so wäre ich auch nicht mehr da, das hat 3 bis 4 Tage ausgemacht…“
März 1946, Lugano, Schweiz (Brief im Besitz des Vereins für Heimatgeschichte in Ober-Ramstadt)
Jettchen und Wolf Wartensleben waren schon ältere Leute, als sie im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Wolf Wartensleben betrieb einen Pferdehandel gemeinsam mit seiner Frau. Seit 1927 war er Privatier und lebte wohl von seiner Rente. Sie verband eine tiefe Freundschaft zu ihren Nachbarn, denen Wolf Wartensleben nach seiner glücklichen Rettung später diesen berührenden Brief schrieb.
Jettchen und Wolf selbst wuchsen in Ober-Ramstadt auf, sie heirateten am 8. Mai 1899. Wolf war 30 und Jettchen 22 zu dieser Zeit beide wuchsen sie im militärisch strengen Kaiserreich auf. Mit den Jugendlichen am Ort hatte man intensive Kontakte und mannigfaltige Freundschaften – Antisemitismus war nur ab und zu zu spüren aber das waren Ausnahmen. In Vereinen und bei Festen feierte man zusammen. Einmal die Woche ging es in die Synagoge.
Jettchen war bei ihrer Hochzeitsfeier schon schwanger, denn am 18.August kam Selma zur Welt und ein Jahr später ihre Schwester Erna. Schöne deutsche Namen ohne Schnörkel…..Leider verstarb Erna sehr schnell nach der Geburt – ein schwerer Schlag für die junge Familie. Sie erlitten ein Schicksal, das damals sehr viel häufiger traurige Realität wurde als heute, obwohl die medizinische Versorgung sich stetig besserte.
Der Pferde und Viehhandel muss die Familie ernährt haben, wohl aber ohne große Reichtümer anzuhäufen.
1910 kommt Else zur Welt, wieder ein Mädchen, vielleicht hatten sie sich einen Jungen gewünscht um den Pferdehandel fortzuführen, denn ein Frau als Pferdehändlerin, die mit den Bauern verhandelt …. das wäre unvorstellbar im strengen Kaiserreich noch dazu auf dem Land.
Der erste Weltkrieg bricht 1914 in die harte aber geordnete ländliche Welt Ober-Ramstadts herein. Pferde werden aufgekauft – später vom Militär konfisziert. Die Männer müssen in den Krieg – natürlich auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Wolf Wartensleben war bestimmt im Krieg wie die anderen Männer seines Jahrgangs. Genauso wie Joseph Bendorf und Abraham Wartensleben, die als Frontkämpfer besondere Ehrungen für Tapferkeit erhielten. Der Krieg verändert die Männer – sie haben das Grauen des Stellungskriegs erlebt. Kein Krieg mehr in im alten Sinne- dieser Krieg zeigte das Gesicht eines Industriellen Krieges: Tonnen an Bomben und Granaten regneten auf die Menschen herunter. Tanks und die ersten Flugzeuge degradierten Menschen zu Kanonenfutter.
1918 ist der Krieg zu Ende – ein Republik entsteht aus der Niederlage, ein schwieriger wirtschaftlicher und politischer Neuanfang -aber mit vielen Verheißungen: Demokratie und Menschenrechte – viele jüdische Intellektuelle begeisterten sich für die Idee der Demokratie und engagierten sich in demokratischen Parteien.
1924 gibt es ein freudiges Ereignis: Selma heiratet Hugo Bendorf und drei Jahre später kommt das gemeinsame Kind Johanna Lotte zur Welt. Dies bleibt übrigens die einzige Ehe zwischen den beiden großen alteingesessenen Familien Bendorf und Wartensleben. Bis 1929 scheint sich die wirtschaftliche Lage für die meisten Menschen deutlich zu verbessern, bis Ende 1929 die Weltwirtschaftskrise beginnt. Mit dem neuen Schwiegersohn ziehen sich Jettchen und Wolf endgültig aus dem Pferdehandel zurück und setzen sich zur Ruhe…
1932 Jettchen und Wolf gehen nur noch selten abends in ein Lokal, den man muss aufpassen: Trupps der SA ziehen öfters durch den Ort und suchen Streit mit Mitgliedern der SPD oder KPD – jüdische Bürger sind natürlich besonders beliebte Opfer für Beleidigungen. Ober-Ramstadt ist gegen Ende 1932 in zwei fast gleichstarke Gruppen gespalten: Die Arbeiterbewegung SPD und KPD auf der einen Seite und die NSDAP auf der anderen Seite – Parteien dazwischen gibt es nicht mehr. Vor dem Versammlungslokal der NSDAP der Gaststätte Starkenburg gibt es im November eine Massenschlägerei wo auch Schüsse fallen – beide Gruppen haben Pistolen – getroffen wird aber glücklicherweise keiner – diesmal.
Januar 1933 dann der Schock: Adolf Hitler wird Reichskanzler. Am 5. März bei den Wahlen wird in Ober-Ramstadt ein SPD Mitglied von der SA erschossen und zwei weitere angeschossen. Aber Hitler ist nun schon fest im Sattel und die Gerichte beschäftigen sich mit den geflohenen Reichsbannermitgliedern, die zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden wegen Landfriedensbruch.
1936 heiraten ihre Tochter Else Hans Heinrich Oestreicher aus Aschaffenburg. Er ist 29 Jahre alt und Metzger. Allerdings ist die Lage in Deutschland sehr prekär geworden. In Ober-Ramstadt ist man fast isoliert. Zu offenen Anfeindungen kommt es öfter auf der Starße .- von Menschen, die man früher glaubte gut zu kennen. Aber die meisten Menschen schauen weg – als wären sie nicht da – als sei es ihnen peinlich sie zu sehen.
Zur Erniedrigung, wirtschaftlichem Boykott und Ausgrenzung kommen die gerade beschlossenen „Blutschutzgesetze“. Sie machen Juden zu rechtlosen Fremden im eigenen Land. Juden sind ab jetzt keine Deutschen mehr und dürfen keine Deutschen mehr heiraten. Sogar der bloße Umgang miteinander oder Geschlechtsverkehr ist strafbar! Wer Jude ist wird durch Herkunftsnachforschung ermittelt auf den Standesämtern.
1938: Nach den schrecklichen Ereignissen am 9, 10 und sogar noch am 11. November 1938 in der „Reichskristallnacht“ ist die Betroffenheit und der Schock bei vielen jüdischen Bürgern groß – so auch bei Jettchen und Wolf Wartensleben. Auch die letzten Freunde und Helfer wenden sich jetzt von ihnen ab – aus Angst vor den Übergriffen der Nazis.
Viele denken an Auswandern, aber das ist schwer – man brauch Geld und einen Bürgen in der USA – wie soll man sich das leisten? Wirtschaftlich ist man sowieso ruiniert durch die Politik der Ausgrenzung und Arisierung, die letzten Reserven sind zumeist schon aufgebraucht auch bei Jettchen und Wolf. Manchmal denken sie – was sollen die uns schon tun wir sind doch nur alte Leute – aber unsere Kinder, Else und Selma die müssen raus und ein neues Leben anfangen….
Mit drei Tagen Vorwarnung müssen im September 1942 beide ihr Haus verlassen, nur mit einem kleinem Koffer ausgerüstet. Der Schlüssel soll im Schloss stecken und sie dürfen nur das was sie auf dem Körper tragen mitnehmen für die Reise. alles andere soll einfach stehen bleiben – für die Volksgenossen des Ortes – nichts darf man behalten. Jettchen und Wolf mussten ihre Wertsachen im Stoffbeutel den Beamten übergeben. Sich selbst mussten sie ein Schild um den Hals hängen auf dem in großen Buchstaben ihr Namen, Geburtsdatum und eine Kennnummer steht, die ihnen von Amts wegen mitgeteilt wurde. Auf einem offenen Pritschenwagen werden beide mit vielen anderen nach Darmstadt gefahren. In einer leer geräumten Schule in Darmstadt werden sie für Tage einquartiert. Beamte nehmen ihnen noch das letzte ab was sie am Körper haben – Jettchens Ohrringe werden ihr von einem unfreundlichen Beamten aus den Ohrlöcher gerissen. Sie weint, ihre Ohren bluten…
Am nächsten Tag auf dem Güterbahnhof in Darmstadt, ein Wagon, Ziel unbekannt, man weiß nur es geht nach Osten. Die SS Offiziere wissen das Ziel, auch der Zugführer: es heißt Theresienstadt – ein KZ im sogenannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren…
Eine Biografie nachempfunden nach den vorhandenen persönlichen Fakten und den allgemeinen historischen Entwicklungen, von Carmen Kehr 2012