Thekla und Joseph Wartensleben.
Fünf Kinder und ein bisschen Ackerland

Wohnhaft in der Grafenstraße 3: Eine ländliche Familie in Ober-Ramstadt,  5 Kinder und zwei Ehefrauen

„Jeder von uns sollte sein Leben bis zum letzten Tag genießen können. Wem steht daher das Recht zu, anderen Menschen dieses abzusprechen?“

Joseph Wartensleben kommt am 13. Februar 1864 als drittes von sieben Kindern zur Welt  Es ist eine ländliche Welt, in der die Kinder hineingeboren werden, aber, Ober-Ramstadt wandelt sich langsam vom Bauern-  und Mühlenbesitzerdorf zur Industrieansiedlung. Adelheid Wartensleben, geb. Kaufmann und ihr Ehemann Meyer Wartensleben I haben 7 Kinder: Wolf, Lisette, Joseph, David, Rosa, Aron und Emanuel. Josefs Brüder Aron und Emanuel sterben schon früh im ersten Lebensjahr. David und Wolf ergreifen als junge Männer kaufmännische Berufe.

Damals ahnen die Eltern noch nicht, welches Schicksal ihren Kindern einmal  widerfahren wird. Im Gegenteil, im Kaiserreich machte man sich große Hoffnungen endlich gleichgestellt und akzeptiert zu werden. Es schien ja auch aufwärts zu gehen, die Berufschancen wurden immer besser und gesellschaftlich schien man mehr und mehr akzeptiert. 1870 ziehen viele junge Männer jüdischen Glaubens genauso wie alle anderen in den deutsch- französischen Krieg und später auch in den Ersten Weltkrieg. Sie waren ganz Deutsche, so wie alle anderen, was sonst?

Jüdischer Bürgerstolz im Kaiserreich: Gedenkteppich für die Reichsgründung. Ein jüdischer Feldgottesdienst 1870/71. In der Mitte ist ein Feldrabbi zu erkennen. (Quelle: Jüdisches Museum Frankfurt)

Joseph als Gemeindevorstand: Jüdisches Leben auf dem Land um 1900

1888, im berühmten Dreikaiserjahr, heiratet Joseph, im  Alter von 24 Jahren, die junge Hedwig Wolf aus Östringen. Die Familie hat 5 Kinder. Selma, Elsa, Emma, Wilhelm und Meta. Sie wohnen in der Grafenstraße 3 in Josephs Elternhaus, ganz in der Nähe der evangelischen Kirche. Elsa verlieren sie schon im ersten Lebensjahr. Keine Seltenheit in der Zeit. Die medizinischen Bedingungen erlauben noch keine bessere Versorgung.

Joseph beachtet die religiösen Regeln und ist für viele ein Vorbild in der jüdischen Gemeinde, denn neben seiner Arbeit auf dem Bauernhof ist er Vorstand der jüdischen Gemeinde. Als er 21 Jahre alt ist wird in Ober-Ramstadt eine neue Synagoge gebaut – endlich. Die evangelische Kirche unterstützt die kleine jüdische Gemeinde von circa  80 Mitgliedern damals mit 150 Mark. Joseph wird sich gefreut haben. Die Verbindungen zur evangelischen Kirche im Ort sind im  Allgemeinen recht gut, auch wenn es manchmal auch andere Stimmen im Ort gibt.

Joseph Wartensleben als Gemeindevorsteher

In Zeitungsanzeigen sucht er für seine kleine Gemeinde einen Vorbeter und einen Lehrer. Es scheint nicht so leicht gewesen zu sein jemanden zu bekommen – viel konnte die Gemeinde wohl auch nicht spenden. 1904 stirbt seine erste Frau Hedwig im Alter von nur 36 Jahren, ein Schicksal von vielen Frauen auf dem Land zu dieser Zeit. Joseph ist mit seinen Kindern alleine.

Drei Jahre später heiratet Joseph wieder. Joseph, jetzt 43 Jahre alt, heiratet die 31jährige Thekla Sondheimer, aus Beerfelden.  Am 07. Dezember 1910 ist die Geburt ihres ersten und einzigen Kindes, Helene Wartensleben. Das hilft ihnen darüber hinwegzukommen, dass ein Jahr zuvor, am 7.09.1909 ihr erstes Kind nur tot geboren wurde.

Ausgrenzung, Entrechtung und Deportation   

Nachdem Hitler 1933 an die Macht kommt, greifen auch für ihn und seine Familie alle ausgrenzenden Gesetzte und Maßnahmen. Es wird nun immer schwieriger wirtschaftlich zu bestehen. Boykott und die Arisierung der Wirtschaft führen dazu, dass 1938 sein Pferde- und Viehhandel endgültig vom NS-Viehwirtschaftsamt geschlossen wird.

Im April 1942 werden Thekla und Joseph aus ihrem Haus in der Grafengasse 3 geworfen und in ein sogenanntes „Judenhaus“ in die damalige Baustraße 88*  eingewiesen, wo sie mit vielen anderen Ober-Ramstädter Juden auf engstem Raum auf ihre Deportation warteten. Ihr letzter Besitz, ihr Haus  wird enteignet.

Nächtliches Ausgangsverbot für Juden in Ober-Ramstadt 1940- Theklas und Josephs Unterschriften befinden sich in den letzten Zeilen. (Stadtarchiv Ober-Ramstadt)

Am 28. September 1942 erfolgt die Deportation von Joseph und Thekla Wartensleben von Darmstadt nach Theresienstadt, wo Joseph am 01. August 1943 aufgrund der dortigen schlechten Bedingungen stirbt. In der Todesurkunde steht  „Arterienverkalkung und Herzmuskelentartung“ als sei es ein ganz natürlicher Tod.

Todesurkunde aus dem KZ-Theresienstadt, (Quelle, Theresienstadt, Dokumentationszentrum)

Thekla überlebt ihren Mann Joseph und wird später weiter nach Auschwitz deportiert um dort am 16. Mai 1944 in den Gaskammern ermordet zu werden.

Thekla und Joseph sind Opfer einer unmenschlichen Ideologie geworden. Wir hoffen, dass ihr Schicksal mit diesem Stolpersteinen nicht in Vergessenheit geraten wird. Ihre Tochter Helene hat wahrscheinlich den Holocaust überlebt, denn sie ist in keiner Opferliste zu finden.

„Ein Mensch ist erst gestorben, wenn keiner mehr an ihn denkt“

Johanna Schuhmann und Ariane Novelli

Was ist aus den Kindern von Hedwig und Joseph geworden?  

Selma, geb. 07.04.1890, heiratet 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, den Soldaten Moritz Diewald aus Münstermaifeld und zieht zu ihm. Ihr gemeinsamer Sohn Egon Diewald, geb. 1923, stirbt mit 15 Jahren an „Rachitis und Herzlähmung“.

Moritz Diewald gerät am 21. August 1940 in Internierungshaft, zuerst im KZ Sachsenhausen und dann in Dachau. Er stirbt am 13. Februar 1941 in Dachau.  

Selma Diewald, geb. Wartensleben wird 1942 von Dortmund ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. (für tot erklärt) Elsa (geb. 1888) stirbt im  Mai 1890, ein Jahr und sechs Monate nach der Geburt

Emma, geb. 1892, heiratet Ernst Jakob Dreyfuß aus Lahr (35) im Jahre 1920. Deportationsziel am 22. Oktober 1940:  Gurs in Frankreich, Internierungslager Drancy,  Sammellager. Am 10. August 1942 Transport nach Auschwitz, Vernichtungslager, (für tot erklärt).

Wilhelm, geb. 1895, heiratet Adrienne Tibodo 1921 in Düsseldorf, er ist Direktor bei der Firma Stokvis und zieht 1930 schon nach Holland, dort ist er als römisch-katholisch registriert, 1942 flüchtet er in die Schweiz. (Archiv Amsterdam), wo er bis 1950 lebt.

Meta, geb. 1898, heiratet 1922 Moritz Lehberger (34) aus Wetter bei Marburg, wohnhaft in Frankfurt.

Lehrberger, Meta Martha geborene Wartensleben, geboren am 08. Februar 1898 in Ober-Ramstadt / Darmstadt/Hessen, wohnhaft in Frankfurt a. Main, Deportationsziel: ab Frankfurt a. Main am 20. Oktober 1941, Ziel: Ghetto Litzmannstadt (Lodz). (für tot erklärt)

Die Kinder von Thekla und Joseph Wartensleben

Helene, geb. 7.10.1910. zieht 1934 nach Frankfurt und kann noch rechtzeitig in die USA fliehen.

Verfasst von: Ariane Novelli, Johanna Schuhmann, Selin Ilhan. Ergänzungen: Ursel Scholz

* Anmerkung: Die damalige Baustraße 88 ist nicht identisch mit der heutigen. Nach 1945 kam es wahrscheinlich im Rahmen des Ausbaus der Straße zu einer Neuvergabe der Hausnummern.